22.02.2021 - Eine wahre Wintergeschichte aus dem tief verschneiten Illgau und Muotathal

Wie heuer im Januar, schneite es auch vor 20 Jahren „wie verrückt“. Damals erlebte Edith Truttmann aus Steinen eine abenteuerliche, siebenstündige Reise von Spreitenbach zum Haus St. Karl ob Illgau. Es kam zum Happy End.

Dank dem Haus St. Karl (im Hintergrund), sind Edith Truttmann und Stefan Muheim seit 20 Jahren ein glückliches Paar. Bild: Guido Bürgler

„Ans Wochenende vom 20./21. April 2001 erinnere ich mich noch fast so gut, wie wenns erst gestern gewesen wäre“, erzählt Edith Truttmann aus Steinen. Damals wohnte sie in Spreitenbach AG, war seit einiger Zeit geschieden und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Anfangs 2001 hatte sie mit Marianne – einer guten Freundin aus Dietikon – das Weisssonntags-Wochenende im Haus St. Karl ob Illgau gebucht. Wegen einer akuten Krise, brauchte Edith unbedingt eine Auszeit und da kam ihr St. Karl in den Sinn. Schon früher hatten sie nämlich ab und zu die Stille des Ortes und die Herzlichkeit der Schwestern genossen. Leider meldete der Wetterbericht haarsträubende Verhältnisse: Ab Samstag bis Sonntag starker Schneefall. Die beiden „Städterinnen“ – um die 45 Jahre alt – „überhörten“ die Ansage, weil der Drang so stark war, ins St. Karl zu reisen. Also packten sie ihre „Köfferli“ und fuhren am Samstag um neun Uhr in Spreitenbach los, mit 30 cm Neuschnee unter den Rädern. „Wenn das nur gut geht!“, dachte Edith. Die Schneepflüge auf der Autobahn bekundeten sichtlich Mühe, die riesigen Schneemassen wegzuräumen. Der Autoverkehr war vorsichtig und zähflüssig unterwegs. So erreichten die beiden Kolleginnen erst nach einer zweistündigen Autofahrt das stark verschneite Schwyz. Gegen Rickenbach hinauf, türmte sich der Schnee noch höher auf. Im „Stalden“ passierte, was zu befürchten war: Das Auto blieb stecken, die Räder des kleinen Nissans drehten leer im Schnee, trotz guter Winterpneus. Leider hatte das Auto keinen Allrad-Antrieb, und an Schneeketten hatte niemand gedacht. Just zu diesem Zeitpunkt war Josef Rickenbacher - ein Lehrer aus Illgau - zu Fuss im Schneegestöber unterwegs. Er half, das Auto anzuschieben. Und siehe da: Die Fahrt ging weiter, aber nur einige Hundert Meter. Dann war endgültig Schluss. Aus, Ende! „Wir mussten uns enttäuscht geschlagen geben“, erinnert sich Edith Truttmann. Zurück in Schwyz, erholten sich die beiden Damen im „Wyssen Rössli“ bei Bratwurst und Rösti etwas von den Strapazen. Draussen fiel der Schnee weiterhin wie „Leintücher“ vom Himmel: Schnee, Schnee, Schnee! Hört das denn nie auf? Bedrückt mussten sich Edith und Marianne eingestehen, dass sie die Anreise abbrechen mussten, und meldeten sich per Telefon im St. Karl ab. Doch beim Bezahlen passierte etwas Unerwartetes: Die „Rössli“-Serviertochter empfahl ihnen, mit dem Auto nach Illgau - und von dort mit dem Luftseilbähnli „opsi“ - zu fahren. „Mein Herz schlug bis zum Hals vor Freude über diese neue Möglichkeit“, erzählt Edith Truttmann. Schnell telefonierte sie ins St. Karl: „Wir kommen nun doch!“ Leider war die Freude nur von kurzer Dauer: Der PW blieb schon in der ersten Kurve auf der Illgauerstrasse stecken. Damit aber nicht genug: Entlang der Strasse ächzten zahlreiche Bäume unter der gewaltigen Schneelast, und drohten jederzeit zusammenzukrachen. Nichts wie weg hier, so die Devise! Mühselig wendete Marianne ihre alte „Klapperkiste“ zwischen den hohen Schneemauern.

Zwei Luftseilbähnli als „Rettung“

„Nun waren wir fest entschlossen, nach Hause zu fahren! Aber das Schicksal hatte andere Pläne. Meine Freundin bog nämlich in die falsche Richtung ab“, erzählt Edith. „So fuhren wir Richtung Muotathal statt Schwyz und machten einen ungeplanten Abstecher ins Thal, wo wir bisher noch nie gewesen waren. Die Sicht im Schneegestöber war praktisch null. Doch wenigstens hatten wir genügend Benzin im Tank!“ Im Restaurant Post erfolgte die zweite Abmeldung beim Haus St. Karl, denn ein Handy hatte damals noch kaum jemand. Die „Post“-Serviertochter zeigte sich sehr hilfsbereit und erklärte, dass von Ried via Illgau zwei Seilbähnli zum St. Karl führten. Sofort telefonierte sie ins Restaurant Fluhhof in Ried und organisierte für die beiden einen freigeschaufelten Parkplatz bei der Talstation der Luftseilbahn Illgau-Ried. Auch die kurze Autofahrt von Muotathal bis zur Talstation in Ried verlief recht abenteuerlich – fast gespenstisch, denn es schneite noch immer ohne Unterbruch. Andere Autos waren bei diesem Hudelwetter fast keine unterwegs. Im ‚Fluhhof‘ wurde kurz nach St. Karl gemeldet, dass es nun doch klappe. „Dann gings zügig in die Höhe. Die zwei ‚Bähnli‘ waren unsere Rettung. Gott sei Dank!“, erzählt Edith Truttmann.

Nach sieben Stunden am Ziel

„Endlich erreichten wir - nach vollen sieben Stunden - müde aber heil - unser ersehntes Ziel, das Haus St. Karl. Es fühlte sich an, als kämen wir in den Himmel“, so Truttmann. Die beiden Frauen wurden von einem netten Herrn empfangen, der eifrig mit Schneeschaufeln beschäftigt war. Er gab ihnen die Schlüssel für ihre Zimmer und wünschte ihnen einen guten Aufenthalt. Alles war noch so, wie es vor sieben Jahren ausgesehen hatte. Es war wie ein Nachhausekommen. Allerdings waren die St. Anna-Schwestern weggezogen, bis auf eine, die geliebte Sr. Anne-Marie. „Schade“, sagte Edith zu ihrer Freundin. Um 18 Uhr war Essenszeit im vertrauten Speisesaal. Keine anderen Gäste, kein Personal, nur der nette Herr von vorher. Er war der Koch des Hauses. Die zwei Gäste wurden verwöhnt mit Raclette de luxe, und sogar Wein war im Angebot zu haben, was es einst bei den Schwestern nicht gab. Nach dem Essen setzten sich Edith und Marianne noch ins Foyer, um den abenteuerlichen Tag gemütlich ausklingen zu lassen. Endlich kamen sie zur Ruhe, und Edith sagte zu Freundin Marianne: „Dass wir nach so grossen Anstrengungen hier sind, hat hundertprozentig mit einer ‚Höheren Macht‘ zu tun.“ Etwa um 22 Uhr setzte sich der Koch – Stefan Muheim - zu den beiden Damen. Bei einem Feierabend-Tee plauderten sie zusammen über Gott und die Welt.

Netter Koch mit zwei Kindern

Plötzlich setzten sich zwei Kinder zu den Erwachsenen. Es stellte sich heraus, dass der Koch ihr Vater ist. Kurz darauf brachte er sie ins Bett. Anschliessend gesellte sich Stefan nochmals zu den Gästen aus dem Unterland. An das Gespräch, das nun folgte, erinnert sich Edith Truttmann noch heute sehr gut und gerne: „Wir öffneten unsere Herzen, und so haben wir erfahren, dass der Koch – ein bodenständiger Urner - seit einem Jahr in St. Karl arbeitet, und dass er geschieden ist. Zudem sagte er uns, dass er das alleinige Sorgerecht für die Kinder habe, und diese bei ihm leben würden. Beachtlich, dachte ich.“ So philosophierte das Trio bis Mitternacht weiter. Dann war es  höchste Zeit, um sich gute Nacht zu wünschen, denn dem Koch stand ein anstrengender Tag bevor: Ein „Weisser Sonntag“ im wahrsten Sinne des Wortes - mit vielen Gästen. Auf dem Weg ins Zimmer sagte Edith zu ihrer Freundin: „Spürst du den Ruf, weshalb wir hier sind?“ – „Nein, was meinst du damit?“ sagte sie. „Wir bieten dieser Familie unsere Unterstützung an!“ „Wie stellst du dir das vor“, fragte sie. „Im Tun wird es sich zeigen: Nicht nur davon reden, sondern handeln!“ Und so kams denn auch: Die nächsten Wochen verliefen mit Wäsche waschen, Bügeln, Haushalten und ab und zu mit Kinderverwöhnen recht arbeitsintensiv. „Die Fahrten von Spreitenbach nach Ibach – wo Stefan und die Kinder wohnten - nahm Edith gerne auf sich. Es war sozusagen wie ein lebendiger Gottesdienst“, meinte Edith Truttmann rückblickend. Und sie fügte an: „Das Schicksal nahm seinen Lauf: Stefan und ich verliebten uns, Gott beschenkte uns mit seiner Liebe.“ Die beiden wurden ein Paar und eine neue Familie. „Bestärkt durch diese Kraft, sind wir bis heute verheiratet und täglich gemeinsam unterwegs. Und das bereits 20 Jahre lang“, erzählte Edith mit einem strahlenden Gesicht. Und sie staunt noch heute, was an jenem schicksalshaften Wochenende geschah: „Trotz hochwinterlichem, misslichem Wetter zog es uns 2001 mit aller Macht hinauf, hinauf zum St. Karl. Es war mit Sicherheit eine Fügung - und zugleich ein Happy End!“

Guido Bürgler

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